Ich habe vor einigen Jahren das Hörbuch von Simon Stranger „Vergesst unsere Namen nicht“ gehört und es hat mich sehr beeindruckt, auch wenn mir der Stil nicht ganz so gut gefiel. Norwegen und seine Geschichte im Nationalsozialismus und in Verbindung zum Holocaust ist mir durch das Hörbuch aber schon damals etwas nähergekommen. Nun habe ich bei ttt den Bericht über das neue Buch von Stranger gesehen und war sofort Feuer und Flamme, bestellte und las in kurzer Zeit das ganze Buch.
Zuerst war ich wieder irritiert vom Schreibstil, von den hin- und herspringenden Gedanken, von verschiedenen Familien, von unglaublichen Schicksalen, von Erinnerungsstücken und Dokumenten. Dass das Buch den Genretitel Roman trägt, kann ich nicht so ganz verstehen, für mich kommt es einem Geschichte und Geschichten erzählenden Sachbuch näher.
Die Grundidee von Stranger ist der Besuch des imaginären „Museums der Mörder und Lebensretter“, er führt den Leser vom Foyer über 12 Säle bis zum Ausgang. Er führt durch Geschichte seiner Familie und Familienangehörigen, die er an Ellen, die Großmutter seiner Ehefrau Rikke, adressiert. Das Leben von Ellens Familie vor der Besetzung Norwegens durch die Nazis ist vergleichbar mit dem Leben gutbürgerlicher jüdischer Familien in Deutschland vor 1933. Der Vater besitzt eine Tabakfabrik und Ellen, ihre Zwillingsschwester Grete und zwei weitere Geschwister wachsen behütet auf, bis ihre Welt in Stücke bricht. Schritt für Schritt begleitet der Leser die Familie bis in die Emigration nach Schweden und wieder zurück.
Parallel dazu erfährt man vom Großvater des Autors, der als Druckereibesitzer während der deutschen Besatzung schmutzigste Nazipropaganda für die deutschen und norwegischen Nazis druckt. Auszüge aus diesen Pamphlets lassen einem das Blut in den Adern stocken, besonders, wenn man selbst jüdische Vorfahren hat, die dem Holocaust zum Opfer fielen. Einen Großvater zu haben, der die Nazis durch seine Arbeit unterstützte, ist auch kein leichtes Erbe. Ohne die Nachforschungen des Autors wären diese Details seiner Familiengeschichte aber wohl auch im Dunklen geblieben.
Stranger reiht Ausstellungsstück an Ausstellungsstück, Fotografie an Fotografie, die Säle sind angefüllt mit Erinnerungsdetails, die er durch mühevolle Recherchen zusammengetragen hat und beschreibt, einige auch als Illustrationen zeigt. Ursprünglich hat er die Inspiration zum Buch wohl einem Podcast zu verdanken, der verschüttete Wahrheiten ans Licht brachte. Und so ist das tragische Schicksal der nicht mit Stranger verwandten Eheleute Jakob und Rakel Feldmann der rote Faden, der durch das Buch geleitet. Ihr Tod auf der Flucht nach Schweden ist kein Unfall, er ist Mord, ein Mord der nie gesühnt wird.
Je länger man diesen Erzählungen folgt, umso spannender und aufwühlender wird das Buch. Dass es gerade Ellen und ihre Familie ist, die durch die gleichen Fluchthelfer nach Schweden gerettet werden, die den Tod der Feldmanns auf dem Gewissen haben, ist so makaber wie der ganze Holocaust. Eine Aneinanderreihung von Zufällen, die gut oder böse ausgehen, wenn man die einzelnen Schicksale betrachtet. Und selbst wenn die Zufälle gut ausgehen, wie bei Ellen, so heißt das noch lange nicht, dass mehr als ihr nacktes Leben gerettet wurde. Das Erlebte bleibt so traumatisch, nicht nur für sie, für alle Überlebenden, dass ein normales Leben kaum möglich wurde. Die Traumata wirken nach bis in die Generationen der Kinder, Enkel, Urenkel. Zitat (S. 277) der Tochter eines ehemaligen KZ-Häftlings: „… die, die wir direkt nach dem Krieg geboren wurden, haben die Angst unserer Eltern mitgenommen. Das ist unser Erbe.“
Makaber sind auch die Auflistungen der Gegenstände, die aus jüdischen Haushalten gestohlen und versteigert wurden, es sind Parallelen zum Vorgehen der Nazis in Deutschland, Österreich und überall, wo ihnen Juden und deren Hab und Gut in die Hände fielen. Die Gier kannte keine Grenzen. Ebenso makaber ist die sogenannte Wiedergutmachung , die nach dem Krieg die wenigen überlebenden Juden zu Bittstellern machte, die am Ende ein Almosen von ihren Staaten bekamen oder gar nichts. Das lief in Norwegen genauso ab wie in Deutschland, ich besitze Akten von einem Verwandten, der eigentlich nur ausgelacht wurde ob seiner Forderungen nach Gerechtigkeit.
Interessant fand ich die Charaktere der Protagonisten. Alles bezieht sich ja immer auf real existierenden Vorbilder, aber der Autor ist natürlich ein subjektiv beobachtender Mensch, innerhalb seine Familienstruktur und innerhalb der gefundenen Details bei seinen Recherchen. So mutet zumindest die Beschreibung der ungeduldigen, zänkischen Frau Feldmann etwas übertrieben an. Vielleicht war sie so, vielleicht haben die, die sie beschrieben haben, ja auch nur ihre Unschuld zeigen wollen ob des Gezeters. Man weiß es nicht. Man weiß auch nicht, wie sehr Peder sich den Mord zu Herzen genommen hat, sein Mittäter jedenfalls scheint über moralische Skrupel erhaben gewesen zu sein. Wie muss sich da erst Peders Mutter gefühlt haben, in deren Stiefeln Frau Feldmann in den Tod ging. Und dann auch die Schilderung der Widerstandskämpfer, die tatsächlich selbstlos gehandelt haben, wie schwer muss es sein, im Nachhinein immer die Spreu vom Weizen zu trennen? Simon Stranger hat es sich nicht leichtgemacht mit diesem Buch!
Mir ist beim Lesen ein Wort immer wieder, eigentlich viel zu oft begegnet, die ständigen Wiederholungen sind vielleicht in Ermangelung passender Äquivalenzen zu verstehen. Flüchtende. Im Staatsrecht ist es so, dass die Bezeichnung Flüchtling, die mir persönlich oft viel leichter fällt, nur für diejenigen Personen gilt, die in einem anderen Land Asyl erhalten haben. Die sogenannte Genfer Flüchtlingskonvention hat das so festgelegt.
Fazit: Dem Leser bietet sich keine leichte, unterhaltsame Lektüre. Der schwierige und emotional bedrückende Gang durch das „Museum der Mörder und Lebensretter“ lohnt sich jedoch. Für den Widerstand gegen den seit dem 7. Oktober 2023 ständig anwachsenden, sich überall zeigenden Antisemitismus und Israelhass stärkt er den offenen Leser auf jeden Fall. Ich empfehle das Buch gern weiter. Gute vier Sterne.