"Yellowface" ist eines dieser ganz besonderen Bücher, bei denen man zu Beginn gar nicht genau weiß, worum es gehen wird, währenddessen man jede Menge nachdenken muss und man nach dem Lesen Schwierigkeiten hat, die richtigen Worte zu finden. R. F. Kuang tritt hier absichtlich in ein gesellschaftliches Minenfeld, fordert jede Menge Arbeit von den LeserInnen und regt zu Kontroversen an. Kurzum: Ein Jahreshighlight, das einen bleibenden Eindruck hinterlässt!
Das Cover ist sehr schlicht gestaltet. Zu sehen sind ein paar geschwungene schwarze Augen, die vorwurfsvoll von einem knallgelben Hintergrund hochblicken und der Titel -Yellowface-, welcher die stereotypische, rassistisch aufgeladene Darstellung von Personen asiatischer Abstammung durch weiße Menschen beschreibt. Die Gestaltung ist eindringlich, aber ohne viel Schnickschnack und passt damit ganz hervorragend zum Buch selbst!
Erster Satz: _"The night I watch Athena Liu die, we’re celebrating her TV deal with Netflix."_
Rebecca Kuang steigt schon mit einem sehr starken Anfang in die Geschichte ein. Im ersten Kapitel erleben wir nicht nur den Tod von Athena Liu hautnah mit, sondern bekommen gleich einen Einblick in das angespannte Verhältnis der beiden Jungautorinnen und beobachten wie die Ich-Erzählerin ein Manuskript der frisch Verstorbenen entwendet. Im Folgenden wird in tagebuchartigem Stil sehr ungefiltert und pointiert erzählt, wie June aus Athenas Werk Kapital schlägt und sich dabei immer mehr in ein Netz aus Lügen, Erpressung, Twitter-Beschimpfungen, Plagiats- und Rassismusvorwürfen und moralisch fragwürdigen Entscheidungen verstrickt. Der tatsächliche Plot ist damit erfrischend originell, hat viele verschiedenen inhaltliche und erzähltechnische Ebenen und tritt definitiv auf bisher wenig ausgetretenen Wegen. Dass "Yellowface" zum absoluten Hypebuch des Frühsommers wurde, überrascht mich deshalb nicht im geringsten!_
“It’s hard, after all, to be friends with someone who outshines you at every turn.”_
Auch wenn es dabei vordergründig "nur" um Junes Alltag als Autorin geht, ist die Geschichte so nüchtern, scharfzüngig und satirisch überspitzt erzählt, dass sie mich von der ersten Seite an eingewickelt und eine enorme Spannung ausgeübt hat. Das liegt zum Einen am Schreibstil der Autorin, bei dem jedes Wort wohlkalkuliert an seinem Platz sitzt und der wirkte, als würde die Autorin mich versteckt in jedem Satz persönlich ansprechen um sicher zu stellen, dass ich noch aufmerksam zuhöre. Zum Anderen daran, dass man nie genau weiß, worauf sich die Geschichte zubewegen wird. Wird June mit ihrem Erfolg davonkommen? Wird sie auffliegen? Wird sie von einem digitalen Lynchmob überrollt? Treibt Athenas Geist sie in den Wahnsinn...? Die Geschichte könnte zu jedem Zeitpunkt in eine Vielzahl unterschiedlicher Richtungen und Genres abbiegen, was bei mir beim Lesen ein bisschen Unbehagen ausgelöst hat, aber gut zur ungewissen Atmosphäre der Geschichte passt. Mit den unvorhersehbaren Horror-, Thriller- und Krimiartigen Episoden in dem ansonsten sehr ruhigen, realistischen Roman stellt die Autorin eine gewagte Mischung zusammen, die aber wunderbar zusammenwirkt.
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“But that's what I need right now: a child's blind faith that the world is so simple, and that if I didn't mean to do a bad thing, then none of this is my fault.”_
Besonders spannend ist dabei, dass die Autorin die Geschichte aus der Ich-Perspektive einer unzuverlässigen Erzählerin schreibt, die von Beginn an den Erzählton manipuliert und Informationen einfügt oder vorenthält, je nachdem was am besten zu ihrem Narrativ passt. Dabei ist June als Hauptfigur ausreichend nachvollziehbar und menschlich charakterisiert, sodass man mit ihr mitfiebern kann, aber nicht liebenswert genug, um auf ihrer Seite zu stehen. Sie ist neidisch, aufmerksamkeitsgierig und hat furchtbare Angst davor, vergessen zu werden. Sie ist einsam, leidet unter Angststörungen und Minderwertigkeitskomplexe und wird von Schuldgefühlen zerfressen. Viele ihrer Gedanken und Handlungen triggern und stoßen negativ auf. Dennoch erwischt man sich immer wieder dabei, ihren Rechtfertigungen Glauben zu schenken, insgeheim zu hoffen, dass sie nicht erwischt wird und Mitleid mit ihr zu haben, wenn sie von der öffentlichen Hetzjagd und dem Psychoterror mürbe gemacht wird. Mit dem spannenden Hin und Her zwischen Ablehnung und Sympathie ihr gegenüber wird man als LeserIn dazu gebracht, seinen eigenen "White Gaze" zu hinterfragen.
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“A writer needs to be read. I want to move people's hearts. I want my books in stores all over the world. I couldn't stand to be like Mom or Rory, living their little and self-contained lives with no great projects or prospects to propel them from one chapter to the next. I want the world to wait with bated breath for what I will say next. I want my words to last forever. I want to be eternal, permanent; when I'm gone, I want to leave behind a mountain of pages that scream, Juniper Song was here, and she told us what was on her mind.”_
Denn zusätzlich zur reichhaltigen Atmosphäre des Romans bringt die Autorin eine Vielzahl unterschiedlicher hochaufgeladener Themen und Meinungen in ihrer Geschichte unter und benutzt dabei sowohl rassistische Vorurteile als auch absurde Übertreibungen von politischer Korrektheit, sodass einem bald der Kopf schwirrt und man gar nicht mehr weiß, wo in der Debatte man selbst steht und was man als richtig und falsch einordnet. Dazu nutzt Kuang neben June und dem Gegenwind aus dem Netz auch Nebenfiguren wie beispielsweise Athena, die zunächst als glänzender Kontrapunkt zur Protagonistin erscheint, mit der Zeit aber auch einiges an Glanz einbüßt. Wer dieses Buch liest, wird nicht darum herum kommen, sich intensiv mit Themen wie Kulturkampf, gesellschaftliche Unterdrückung, kulturelle Aneignung, Rassismus, Zensur oder Plagiaten auseinanderzusetzen und seine eigene Stellung mit den provokanten Extrempositionen des Buches abzugleichen.
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"Writing is the closest thing we have to real magic. Writing is creating something out of nothing, is opening doors to other lands. Writing gives you power to shape your own world when the real one hurts too much.”_
Auch wenn die Geschichte hier thematisch eher in die Breite als in die Tiefe geht, wird durch diese Bombardierung mit verschiedenen Sichtweisen klar: Ein Schwarz-Weiß-Denken ist bei solchen Themen unmöglich und auch nicht zielführend. Stattdessen wird man dazu angeregt, sich weiter mit den Themen zu beschäftigen und die Wahrheit abseits von Ideologien in der Mitte zu suchen. Ich bin mir sicher, dass 100 verschiedene LeserInnen aus diesem Buch 100 verschiedene Messages herauslesen werden. Für mich ist folgende Botschaft zentral: Die Autorin unterstreicht mithilfe ihrer Ich-Erzählerin, dass es immer darauf ankommt, wer die Geschichte aus welcher Perspektive erzählt und die Öffentlichkeit immer nur die Spitze des Eisbergs sieht. Dementsprechend sollte man sich mit schnellen Urteilen - vor allem auf Social Media - eher zurückhalten.
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“Offline, writers are all faceless, hypothetical creatures pounding out words in isolation from one another. You can't peek over anyone's shoulder. You can't tell if everyone else is really doing as dandy as they pretend they are. But online, you can tune into all the hot gossip, even if you're not nearly important enough to have a seat in the room where it happens. Online, you can tell Stephen King to go fuck himself. Online, you can discover that the current literary star of the moment is actually so problematic that all of her works should be canceled forever. Reputations in publishing are built and destroyed constantly online.”_
Zusätzlich zu den gesellschaftlich brisanten Fragestellungen bietet das Buch einen messerscharfen Einblick in die Medienwelt und liefert auch hier Stoff für ausführliche Debatten. Wer entscheidet, welche Geschichte die Welt als nächstes lesen soll? Wie entstehen Bestseller? Wer darf welche Geschichte schreiben? Wer hat welches Anrecht auf welche Ideen und Themen? Oder wie geht man als LeserIn mit problematischem Verhalten von AutorInnen um (ein Thema, das in der Blog-Community seit J.K. Rowling schon intensiv diskutiert wird). Je länger man liest, desto mehr stellt sich hier die Frage, ob man im digitalen Zeitalter Bücher von ihren AutorInnen überhaupt noch trennen und behaupten kann, dass Bücher nicht politisch sind! Mit Veröffentlichungsdruck, extremer Schnelllebigkeit, der Planbarkeit von Bestsellern, Imagekampagnen von AutorInnen und Identitätspolitik kommt die Verlagsbranche hier allgemein nicht besonders gut weg - was besonders ironisch ist, da "Yellowface" selbst aufgrund der geschilderten Mechanismen zum weltweiten Bestseller geworden ist. Man fragt sich unweigerlich, wie viel von der Autorin selbst und ihren Erfahrungen im Buch steckt, aber genau wie man nie erfahren wird, ob June hier die Wahrheit erzählt, werden wir das ebenfalls nie wissen und das spielt für die Wirkung der Geschichte auch keine Rolle: Für mich hat sich die Geschichte teilweise zu real angefühlt und an manchen Stellen auch ein bisschen überfordert - auf die bestmöglichste Weise.
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"I think it's very dangerous to start censoring what authors should and shouldn't write. I'd hate to live in a world where we tell people what they should and shouldn't write based on the color of their skin. I mean, turn what you're saying around and see how it sounds. Can a Black writer not write a novel with a white protagonist? What about everyone who has written about World War Two, and never lived through it? You can critique a work on the grounds of literary quality, and its representations of history - sure. But I see no reason why I shouldn't tackle this subject if I'm willing to do the work. And as you can tell by the text, I did do the work. You can look up my bibliographies. You can do the fact-checking yourself. Meanwhile, I think writing is fundamentally an exercise of empathy. Reading lets us live in someone else's shoes. Literature builds bridges; it makes our world larger, not smaller. And as for the question of profit - I mean, should every writer who writes about dark things feel guilty about it? Should creatives not be paid for their work?”_
So auch das Ende, das nach einem thrillerartigen Höhepunkt sehr viel offen lässt und der Geschichte eine weitere Meta-Ebene hinzufügt. Auch wenn ich mir etwas mehr Antworten gewünscht hätte, finde ich das tatsächliche Ende sehr gut gelöst. Denn auch wenn ich durch die Offenheit das Gefühl hatte, dass die Autorin nicht ganz sicher war, wie sie ihre Geschichte zu Ende bringen soll, passt dies perfekt zu June, die selbst feststellt: "I’ve written myself into a corner. The first two thirds of the book were a breeze to compose, but what do I do with the ending? Where do I leave my protagonist, now that there’s no clear resolution?" Das Ende lässt einen abermals zweifelnd zurück, ob die Erzählerin vertrauenswürdig ist und was wirklich passiert ist. Im Endeffekt spielt das aber keine Rolle: sie erzählt hier ihre Geschichte und wir können nicht anders, als ihrem Narrativ zu folgen und zu hoffen, mit unseren Urteilen der Wahrheit gerecht zu werden. So steht für mich fest: "Yellowface" ist kein perfekter Roman, aber definitiv ein vielschichtiger und anregender, der anders ist als alles, was ich bisher gelesen habe!
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“The truth is fluid, there is always another way to spin the story.”_
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Fazit:
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Ein scharfzüngiger und satirisch überspitzer Roman über kulturelle Aneignung, Rassismus, Zensur, Plagiate. R.F. Kuang wirft hier eine Menge wichtiger Fragen auf und erzählt gleichzeitig eine vielschichtige und hochspannende Geschichte über eine kontroverse Hauptfigur.