Der Inhalt
Marie hat das Glück in eine wohlhabende Familie geboren zu sein,unterliegt damit jedoch auch den Konventionen ihrer Zeit. Von ihr wird erwartet, sich damenhaft zu benehmen und sich nicht in Politik oder gesellschaftliche Themen einzumischen.
Entgegen der Konventionen möchte Marie etwas bewegen und ihrer Fantasie freien Lauf lassen.Sie begehrt gegen ihren Vater und die Gesellschaft auf, indem sie heimlich Dramen schreibt. Sie reitet wild und ungestüm durch die Landschaft des väterlichen Gutes. Sie kümmert sich um die armen Dorfbewohner, wie ihre verstorbene Mutter es getan haben soll.
Sie findet in ihrem Cousin Moritz einen Unterstützer, Freund, Kritiker und später Ehemann. Die beiden durchleben eine Ehe mit Höhen und Tiefen, um sich zu verlieren und am Ende wieder zu finden. Die Liebe versetzt in ihrer Geschichte Berge, so dass der Knoten platzt und beide ihre Erfüllung finden, gemeinsam und jeder für sich.
Meine Meinung
Lucca Müller schreibt Drehbücher und war als Journalistin tätig. "Die Eigensinnige" ist ihr zweiter Roman und behandelt wie auch schon ihr erster die Geschichte einer emanzipierten Frau, die ihrer Zeitvoraus war.
"Die Eigensinnige" betrachtet das Leben der Marie von Ebner-Eschenbach.
Bisher habe ich noch keinen Roman von Lucca Müller gelesen. Anhand der Erzählart lässt sich unschwer erkennen, dass die Autorin inzwischen Drehbuchautorin ist. Die einzelnen Szenen im Roman spiegeln es wieder.
Mit dem Prolog landen wir zunächst in der Gegenwart des Romans und erleben eine kurze Szene im Zuge einer der ersten Aufführungen ihres Theaterstückes. Es ist sehr aufregend, auch im negativen Sinn. Mit aufgewühlten Gefühlen fällt man mitten ins Geschehen und springt dann in die Vergangenheit zu der jungen, unverheirateten Frau. Ein wilder Ritt und sehr gut gelungen, denn sofort kann ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen und muss wissen, warum es dazu kam und wie. Ich mag derartige Zeitsprünge innerhalb von Romanen sehr, weil sie mich aufmerksam werden lassen, den Spannungsbogen ziehen und erst wieder ein wenig los lassen, wenn ich bei der Geschichte angekommen bin.
Mit einem richitgen Ritt geht es dann in der Vergangenheit von Marie weiter. Sie als junge Frau auf der Sommerresidenz dem Schloss in Zdislawitz. Einem Ort, an dem sie sich ihrer verstorbenen Mutter sehr nahe fühlt und in dessen Dorf sie scheinbar unbewusst die Gütigkeit der eigenen Mutter weiter trägt. Sie reitet ins Dorf, bringt den Dorfbewohnern Lebensmittel und Arzneien und kümmert sich rührend um jeden, als seien Sie ein Teil der Familie. Einzig aus einem Haus empfängt sie Missgunst und diese kleine Geschichte mit dem Hund, der sich bei jedem Besuch über die Maßen freut, wenn Marie erscheint, zeigt die ersten Risse der Unterschiede zwischen den Reichen und Armen dieses Jahrhunderts auf. Dennoch geht Marie unvoreingenommen auf jeden zu und schert sich zunächst nicht um Konventionen.
Ihr kleines Versteck mit den Büchern und der Genuss der Einsamkeit und alleine zu lesen, nimmt sie sofort für mich als Leserin ein.
Es folgen die Ansprüche an eine Frau dieser Zeit. Es geht um den "Brautball", an dem die Frauen unter die Haube gebracht werden sollen. Zunächst sträubt sich Marie ein wenig, indem sie weiterhin ausreiten will, aber letztendlich ordnet sie sich unter und lernt die Etikette von ihrer Maman, um auf dem Ball einen guten Eindruck zu hinterlassen. Sie verliebt sich zum ersten Mal, bzw. entdeckt die Liebe zu ihrem Cousin Moritz. Moritz ist ihr treuester Freund und Unterstützer, wenn es ums Schreiben und das Verstehen der Welt geht. Er liest ihre Geschichten und korrigiert sie liebevoll. Erklärt ihr die historischen Zusammenhänge, die sie aufgrund der fehlenden Bildung durcheinander bringt und besorgt ihr Literatur, so dass sie sich das Wissen selbst aneignen kann. Es ist fast kein Wunder, dass Marie sich in diesen Mann verliebt.
Die kurze und einfühlsame Beschreibung des Thema "Inzest" hat mich berührt und habe ich als eine gute inhaltliche Ergänzung innerhalb der Geschichte gefunden. Es zeugt von Intelligenz und Reife, dass sowohl Marie, als auch Moritz sich darüber Gedanken machen, dass es nicht richtig sei als Cousine und Cousin eine Beziehung einzugehen. Letztendlich folgen sie ihren Herzen und gehen dann doch den gemeinsamen Weg und nutzen die Möglichkeiten ihrer Zeit.
Es bleibt offen - und das ist sicherlich der medizinischen Kenntnisse der Zeit geschuldet -, ob die Kinderlosigkeit und Maries einzige Fehlgeburt einen Zusammenhang mit den verwandschaftlichen Verhältnissen haben. Es ist aber auch ein spannendes und sehr aktuelles Thema, dass die Streitereien zwischen den Ehepartnern bzgl. der ausbleibenden Schwangerschaft aufzeigen. Der Wunsch nach einer Familie, aber auch die Angst und Zwänge, die diese Kinder mit sich bringen können. Es werden Themen zwischen Marie und Moritz, wie auch die Konventionen, die auch heute noch Frauen auferlegt werden, der Familie aufgezeigt. Ein Mann, der von der Frau Kinder erwartet und es für selbstverständlich erachtet, dass es an ihr liegen muss, wenn es nicht voran geht. Am Ende soll das Schreiben von Marie daran schuld sein, dass sie nicht schwanger wird. Der Vater, der bei jedem Zusammentreffen das Thema anschneidet, insbesondere wenn bei den Schwestern von Marie wieder Nachwuchs auf dem Weg ist. Maries eigene Ängste in Bezug auf eine Schwangerschaft, die durch den Tod von ihrer Schwester Sophie noch verstärkt werden. Letztendlich entscheidet Marie sich dann für eine damals verbreitete Art der Empfängnisverhütung und als Moritz es herausfindet, die beiden sind zu dem Zeitpunkt bereits viele Jahre verheiratet, führt auch das zu einem Bruch zwischen den Eheleuten.
All den Widrigkeiten ihrer Zeit zum Trotz, den Mahnungen der Maman sich wie eine Dame zu verhalten, den Wutausbrüchen ihres Vaters, der das Verhalten als unschicklich empfindet, schreibt Marie weiter. Ihre harte Arbeit wird belohnt und ihr erstes Stück aufgeführt, allerdings gehen alle davon aus, es sei von einem Mann geschrieben. Als sie sich zu ihrem Werk bekennt, wird es von den Kritikern zerrissen und während Moritz diesen Umstand sofort erkennt, wehrt Marie sich gedanklich davor, es solle an ihrem Geschlecht liegen. Dieses ist der Teil des Romans und der Marie, der mir nicht so gut gefallen hat. Mehr als einmal erkennt Moritz Zusammenhänge in Bezug auf die unterschiedliche Bewertung von Frauen und Männern, während Marie eher ungläubig darauf antwortet und fast schon blauäugig die Meinung ihres Mannes abtut. Diese naive Darstellung Maries erscheint für mich befremdlich, weil ich mir bei der ganzen Wildheit und dem Handeln gegen Konventionen mehr Intelligenz und Umsicht dieser Protagonistin erwartet hatte.
Nach der ersten Aufführung folgt die Premiere in Wien, an der sie selbst und ihre ganze Familie teilnehmen. Es wird ein Desaster, weil sie die Privilegierten aufs Korn nimmt und die nicht über sich selbst lachen können, sondern es als Angriff empfinden. Marie wird geächtet und zum ersten Mal in ihrem Leben wendet sich auch ihr Mann von ihr ab und verlangt schlussendlich, sie möge sich von dem Schreiben abwenden. Dieser Vertrauensverlust von ihrem Seelenpartner, entzieht Marie ihre Kraft und Kreativität. Sie fühlt sich alleine gelassen und von allen verstossen. Da kommt als unerwartete Wendung die kurze Liebschaft mit dem Schauspieler Lewinsky in ihr Leben. Plötzlich fühlt sie sich wieder geliebt und gesehen und mit den Frühlingsgefühlen kommt die Leidenschaft. Ihre Maman redet ihr diese Liebschaft aus und weiht sie in den eigenen Fehler der Jugend ein, der sie an die Seite von Maries Vater gebracht hat. Marie beendet die Liebschaft, bevor sie richtig begonnen hat und kann jedoch mit der gefühlten Schande nicht leben. Sie hadert mit sich und will ehrlich zu ihrem Mann sein. Die Offenbarung des Betrugs bringt die Eheleute wieder eng zueinander. Mir gefällt dieser Teil des Romans sehr, weil die beiden endlich wieder offen und ehrlich miteinander reden und sich Zusammenhänge und Probleme aufzeigen, die auf Seiten von Moritz da waren und zu lösen sind. Der Roman erzählt die Perspektive von Marie, so dass die Gefühle und Gedanken von Moritz lange im Dunkeln bleiben. Mit der Auflösung im dritten Teil verstehe ich Moritz wieder besser und die Liebe der beiden kann wieder leidenschaftlich aufblühen, weil auch Marie ihren Mann besser versteht.
Gemeinsam bewältigen sie den Tod und Verlust von Maries Vater, der für Moritz ebenfalls eine Vaterfigur war, und später den Tod ihrer Maman. Gemeinsam betrauern sie auch den Tod von Moritz Mutter, bevor Marie diese hingebungsvoll betreut hatte. In allen drei Todesfällen bekomme ich als Leserin die ein oder andere Lektion und ein aktuelles Thema unserer Neuzeit gespiegelt. Marie versöhnt sich emotional mit ihrem Vater und erkennt, dass sie viel von seiner Wildheit in sich hat. Was bei ihm als Wut und Jähzorn zum Vorschein kam, ist ihre beständige Wildheit und das Durchhalten beim Schreiben. Zu ihrer Maman erfährt sie eine intensivere emotionale Bindung, weil sie sie bis in den Tod pflegt. Herzzerreissend sind die Szenen, in denen Marie ihrer Stiefmutter Ton besorgt, damit diese töpfern kann, weil sie es als Mädchen so gerne getan hat. Das beschreibt zauberhaft die Beziehung zu einer heutigen älteren Generation, die mit Verboten groß wurde und Nähe schlecht zulassen kann. Hier standen bei mir die Taschentücher griffbereit. Sehr zu Herzen ging mir die Geschichte von Moritz seiner Mutter. Mit Demenz in einer Zeit zu leben, in der die Frauen so gut wie keine Rechte hatten und heute auch noch, die Krankheit überhaupt noch nicht klar umrissen werden kann, stelle ich mir grauenhaft vor. Allenfalls wird man als verrück erklärt und kann sich seinen Zustand selbst nicht erklären. Sehr liebevoll führt Lucca Müller in dieses Thema ein. Helene sehnt sich nach der Geborgenheit beim Bruder, Maries Vater. Niemand erkennt diese ersten Zeichen der Demenz und dann schreitet sie schleichend voran, bis Helene immer wieder davon läuft und sich nicht mehr richtig anziehen kann. Traurig, anrührend und so klar und hart. Grandios.
Fazit
Der Erzählstil von Lucca Müller gefällt mir sehr gut und ich kann verstehen, dass sie Drehbücher schreibt. Die Szenen laufen wie in einem Film vor meinem geistigen Auge ab. Die Geschichte wird flüssig erzählt und an genau den richtigen Stellen wird der Spannungsbogen angezogen und es entstehen neue Wendungen innerhalb der Geschichte, die mich nicht aufhören lassen zu lesen. Mir persönlich gefällt die Figur der Marie grundsätzlich schon, aber ich hätte sie mir noch ungestümer und manchmal scharfsinniger gewünscht. Sie erscheint sehr romantisch verträumt und in vielerlei Hinsicht naiv. Gegen ihren klarsichtigen Mann steht sie dabei häufig zurück. Das finde ich schade, zumal deren Beziehung als ebenbürtig und harmonisch beschrieben wird. Ich kann verstehen, dass aufgrund des Bildungsgrades von Frauen und Männern die gesellschaftlichen und politischen Kenntnisse variieren müssen, aber am Ende ist es ein Roman. Ich hatte mir einfach eine weitsichtigere Marie vorgestellt.