Selten habe ich einer Fortsetzung so entgegengefiebert wie dem zweiten Band der Reihe "Palais Heiligendamm". Nach den dramatischen Ereignissen im Deutschen Kaiserreich entführt Michaela Grünig ihre LeserInnen in die von vielen Krisen geschüttelte Weimarer Republik, der ersten parlamentarischen Demokratie in Deutschland.
Palais Heiligendamm, 1922: Während der Währungskrise kämpft Elisabeth erneut um das Überleben des frisch renovierten Palais. Erst als ein berühmter Regisseur in der schönen Kulisse des Hotels einen Film dreht, gibt es neue Hoffnung. Während der berufliche Erfolg zum Greifen nah ist, steht Elisabeths Liebe zu Julius unter keinem guten Stern. Auch ihr Bruder Paul muss Abschied von seinen Träumen nehmen. Er ist zutiefst unglücklich. Als er in den Dunstkreis der NSDAP gerät, trifft er eine Entscheidung, die die ganze Familie in Gefahr bringt ...
Das hübsche Cover zeigt eine schmale Frauengestalt, die - tief in ihre Gedanken versunken - den wolkenverhangenen Himmel betrachtet. Für die wilden Zwanziger Jahre ist sie sehr konservativ gekleidet, sie erfüllt alle Erwartungen, die an eine junge Frau aus einer guten Familie gestellt werden. Man darf mutmaßen, dass hier Elisabeth portraitiert werden sollte, eine kluge, starke Frauengestalt, die im Zentrum dieser Reihe steht.
Der historische Roman "Palais Heiligendamm" pendelt zwischen zwei zentralen Schauplätzen, nämlich Berlin und Bad Doberan, an der Ostseeküste Mecklenburg-Vorpommerns. Hier ist der Sitz des Palais Heiligendamm, des Luxushotels, das von der Familie betrieben wird.
Das Wiedersehen mit den vertrauten Protagonisten macht großen Spaß. Im Laufe der Zeit haben alle Charaktere eine bemerkenswerte Entwicklung hinter sich gebracht, die man ihnen im ersten Band der Familiensaga gar nicht zugetraut hätte. Wer hätte gedacht, dass Elisabeth sich zu einer selbstbewussten Geschäftsfrau und liebevollen Mutter mausern würde? Sie passt sich den modernen Zeiten an und trennt sich von alten Zöpfen (im wahrsten Sinne des Wortes). Sie pflegt eine freundschaftliche Beziehung zu Julius, dem Vater ihrer einzigen Tochter, dem sie sich nach wie vor eng verbunden fühlt, und hat ihr Leben im Griff, ganz im Gegensatz zu ihrem homosexuell veranlagten Bruder Paul. Nach der "Vernunftehe" mit seiner konservativen Ehefrau Helene stürzt er sich in eine verhängnisvolle Affäre mit einem rechtsradikalen Politiker, der um jeden Preis Karriere bei der NSDAP machen will. Sein Freund ist auf ein "makelloses" Privatleben angewiesen; eine Schein-Ehe mit Luise, der jüngsten Schwester von Paul, die nach einer gescheiterten ersten Ehe als geschiedene Frau gesellschaftlich "unten durch" ist und eine künstlerische Laufbahn als Schauspielerin anstrebt, ist für ihn die perfekte Lösung. Paul ist kein schlechter Mensch, er ringt mit seinem Gewissen, doch er lässt sich ausnutzen - von Menschen, die im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen gehen.
Was die politische Gesinnung angeht, hält sein Bruder, ein renommierter Arzt an der Charité in Berlin, sich weitgehend bedeckt, während seine Frau Margot sich auf dem Gebiet der Rassenhygiene engagiert, was ihre gefährliche Nähe zur NSDAP andeutet.
Von diesen folgenschweren antidemokratischen Entwicklungen betroffen ist Johanna, die älteste Schwester von Paul, die nicht nur mit Samuel, einem tüchtigen Kinderarzt, verheiratet ist, sondern auch seinen jüdischen Glauben angenommen hat. Aufgrund der rechtsradikalen Strömungen in Berlin schwebt ihre Familie in Lebensgefahr - ihr bleibt nur die Flucht ins rettende Ausland.
Michaela Grünig erzählt nicht nur von den Reichen und Schönen, sondern gewährt auch einen klaren Einblick in das Leben von Menschen, die am unteren Ende der sozialen Hierarchie stehen. Die tüchtige Köchin Minna, welche nach ihrem Einsatz als Kindermädchen wieder das Zepter in der Küche des Palais Heiligendamm schwingen darf, träumt von einer gemeinsamen Zukunft mit Albert, einem überzeugten Kommunisten. Doch ihre Wünsche werden sich kaum erfüllen. Für ein ruhiges bürgerliches Leben kann Albert sich nicht erwärmen, der politische Klassenkampf steht für ihn an erster Stelle. Eine klare Entscheidung, für die er einen hohen Preis zahlen wird.
Was für eine packende Lektüre! Michaela Grünig hat eine brillant geschriebene, faszinierende Fortsetzung vorgelegt, die mich (fast) noch mehr mitgerissen hat als der erste Band. Ihr neues Buch hat mich tief beeindruckt; ich mochte gar nicht mehr mit der Lektüre aufhören. Michaela Grünig hat die politischen Strömungen der Zeit anschaulich vermittelt; man erlebt die ständigen Wirtschaftskrisen, die hohe Arbeitslosigkeit, den politischen Terror und das mangelnde Vertrauen in die junge Demokratie hautnah mit. Während meiner Lektüre sind Fiktion und Realität miteinander verschwommen; ich habe mit allen Protagonisten gehofft, gelacht, gelitten und geweint - und fiebere dem letzten dritten Band entgegen. Kann man sich mehr von einem historischen Roman wünschen?